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267Außenpolitik von Bismarck zu Wilhelm II. M1 Das „Kissinger Diktat“ Während der Balkan-Krise (1875 1878) stellt Bis marck in seinem Urlaub in Bad Kissingen Überlegungen über die außenpolitische Situation des Deutschen Reiches an. Unabhängig vom tagespolitischen Anlass gilt das „Kissinger Diktat“ vom Juni 1877 als Schlüsseldokument zum Verständnis Bismarck’scher Außenpolitik nach der Reichsgründung: Ein französisches Blatt sagte neulich von mir, ich hätte „le cauchemar des coalitions“1; diese Art Alp wird für einen deutschen Minister noch lange, und vielleicht immer, ein sehr berechtigter bleiben. Koalitionen gegen uns können auf westmächtlicher Basis mit Zutritt Österreichs sich bilden, gefährlicher vielleicht noch auf russisch-österreichisch-französischer; eine große Intimität zwischen zweien der drei letztgenannten Mächte würde der dritten unter ihnen jederzeit das Mittel zu einem sehr empfi ndlichen Drucke auf uns bieten. In der Sorge vor diesen Eventualitäten, nicht sofort, aber im Lauf der Jahre, würde ich als wünschenswerte Ergebnisse der orientalischen Krisis für uns ansehn: 1. Gravitierung2 der russischen und der österreichischen Interessen und gegenseitigen Rivalitäten nach Osten hin, 2. der Anlass für Russland, eine starke Defensivstellung im Orient und an seinen Küsten zu nehmen und unseres Bündnisses zu bedürfen, 3. für England und Russland ein befriedigender Status quo, der ihnen dasselbe Interesse an Erhaltung des Bestehenden gibt, welches wir haben, 4. Loslösung Englands von dem uns feindlich bleibenden Frankreich wegen Ägyptens und des Mittelmeers, 5. Beziehungen zwischen Russland und Österreich, welche es beiden schwierig machen, die antideutsche Konspiration gegen uns gemeinsam herzustellen, zu welcher zentralistische oder klerikale Elemente in Österreich etwa geneigt sein möchten. Wenn ich arbeitsfähig wäre, könnte ich das Bild vervollständigen und feiner ausarbeiten, welches mir vorschwebt: nicht das irgendeines Ländererwerbes, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden. Günter Schönbrunn (Bearb.), Das bürgerliche Zeitalter 1815 1914. Geschichte in Quellen, München 1980, S. 454 f. 1. Erläutern Sie die von Bismarck genannten Gegensätze der europäischen Mächte. 2. Analysieren Sie Bismarcks außenpolitische Ziele und Befürchtungen. 3. Diskutieren Sie, ob sich eine Außenpolitik mit der hier geschilderten Zielsetzung als „Friedenspolitik“ bezeichnen lässt. M2 Bismarcks Hinwendung zur Kolonialpolitik In einer Rede vor dem Reichstag vom 26. Juni 1884 skizziert Bismarck seine Position zur Kolonialfrage und die Ausrichtung der Kolonialpolitik seiner Regierung: Wir sind zuerst durch die Unternehmung hanseatischer Kaufl eute, verbunden mit Terrainkäufen und gefolgt von Anträgen auf Reichsschutz, dazu veranlasst worden, die Frage, ob wir diesen Reichsschutz in dem gewünschten Maße versprechen könnten, einer näheren Prüfung zu unterziehen. Ich wiederhole, dass ich gegen Kolonien – ich will sagen, nach dem System, wie die meisten im vorigen Jahrhundert waren, was man jetzt das französische System nennen könnte –, gegen Kolonien, die als Unterlage ein Stück Land schaffen und dann Auswanderer herbeizuziehen suchen, Beamte anstellen und Garnisonen errichten –, dass ich meine frühere Abneigung gegen diese Art von Kolonisationen, die für andere Länder nützlich sein mag, für uns aber nicht ausführbar ist, heute noch nicht aufgegeben habe. […] Etwas ganz anderes ist die Frage, ob es zweckmäßig, und zweitens, ob es die Pfl icht des Deutschen Reiches ist, denjenigen seiner Untertanen, die solchen Unternehmungen im Vertrauen auf des Reiches Schutz sich hingeben, diesen Reichsschutz zu gewähren und ihnen gewisse Beihilfen in ihren Kolonialbestrebungen zu leisten, um denjenigen Gebilden, die aus den überschüssigen Säften des gesamten deutschen Körpers naturgemäß herauswachsen, in fremden Ländern Pfl ege und Schutz angedeihen zu lassen. Und das bejahe ich, allerdings mit weniger Sicherheit vom Standpunkte der Zweckmäßigkeit – ich kann nicht voraussehen, was daraus wird –, aber mit unbedingter Sicherheit vom Standpunkte der staatlichen Pfl icht. Ich kann mich dem nicht entziehen. [Ich] sage: womit könnte ich es rechtfertigen, wenn ich Ihnen sagen wollte: Das ist alles sehr schön, aber das Deutsche Reich ist dazu nicht stark genug, es würde das Übelwollen anderer Staaten auf sich ziehen, es würde […] in unangenehme Berührung mit anderen kommen, es würde „Nasenstüber“ bekommen, für die es keine Vergeltung hätte; dazu ist unsere Flotte nicht stark genug! […] Aber ich muss sagen, dass ich als der erste Kanzler 1 cauchemar des coalitions (frz.): „Albtraum der Bündnisse“ 2 Gravitierung: Schwerpunktverlagerung 5 10 15 20 25 30 5 10 15 20 25 30 35 Nu r z u Pr üf z ck en Ei ge tu m d es C .C .B uc hn er V e la gs | |
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