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M1 Deutschland – der „tolle Hund Europas“? Der britische Botschafter in Berlin, Lord d’Abernon, über die Bedeutung des Locarnound des Rapallo-Vertrages für Deutschland, 18. 11. 1925: Der erste und wichtigste Gewinn [für Deutschland] liegt darin, dass Locarno die Kriegsentente1 gegen Deutschland beendet. Er bringt Deutschland in das europäische Konsortium der Westmächte und räumt mit der alten diplomatischen Auffassung der Lage auf, die Deutschland als „den bösen Friedensstörer“, „den Exponenten des aggressiven Militarismus“ und „den tollen Hund Europas“ betrachtete. […] Bei einer unparteiischen Bewertung muss man diesem Gewinn gewisse Verluste entgegensetzen. Der wichtigste darunter ist eine Schwächung oder sogar Aufgabe der Basis des Rapallo-Vertrages, aber Rapallo hat sich im Grunde genommen nie sehr befriedigend für Deutschland ausgewirkt. Die Handelsgewinne, die damals erwartet wurden, blieben aus, und auch die diplomatische Unterstützung war von keinem großen Wert. Er hat Deutschland bloß das Gefühl genommen, dass es allein und frierend draußen auf der Straße stand. Ich halte noch immer an meiner Ansicht fest, dass eine Zusammenarbeit zwischen der deutschen Rechten und der russischen Linken [den Bolschewisten nach der Oktoberrevolution 1917] ein Ding der Unmöglichkeit sei, aber ich muss zugeben, dass ich vor einigen Tagen beim Empfang in der russischen Botschaft ein wenig erschüttert war, als ich die Fülle der steifen militärischen Gestalten mit Eisernem Kreuz auf der Brust sah, die sich so unbekümmert den russischen Sekt zu Gemüte führten. Deutsche Geschichte 1918–1933. Dokumente zur Innenund Außenpolitik, hg. von W. Michalka und G. Niedhart. Frankfurt am Main 2002, S. 109 f. 1. Fassen Sie die Einschätzung des britischen Botschafters in drei Kernaussagen zusammen. 2. Erläutern Sie, welche Rückschlüsse sich auf die britische Außenpolitik ergeben. 3. Überprüfen Sie anhand der deutschen Außenpolitik, inwiefern die Erschütterung des Botschafters berechtigt war. 5 10 15 20 25 1 Entente: Bündnis (wörtlich: „Einvernehmen“) M2 Warum kommt Europa nicht voran? Im Zeichen der Verständigungspolitik mit den Westmächten erreicht Außenminister Gustav Stresemann 1926, dass Deutschland Mitglied des Völkerbundes wird. In seiner letzten Rede vor diesem Gremium führt er am 9. September 1929 aus: Ich komme zu der Frage, die in der Debatte dieser Tage erörtert worden ist. Das war die Neugestaltung der Staatenverhältnisse in Europa. […] Was erscheint denn an Europa, an seiner Konstruktion vom wirtschaftlichen Gesichtspunkte aus so außerordentlich grotesk? Es erscheint mir grotesk, dass die Entwicklung Europas nicht vorwärts, sondern rückwärts gegangen zu sein scheint. […] Durch den Versailler Vertrag ist eine große Anzahl neuer Staaten geschaffen worden. Ich diskutiere hier nicht über das Politische des Versailler Vertrages, denn ich darf annehmen, dass meine Anschauungen darüber bekannt sind. Aber das Wirtschaftliche möchte ich doch betonen und sagen, dass es unmöglich ist, dass Sie zwar eine große Anzahl neuer Staaten geschaffen, aber ihre Einbeziehung in das europäische Wirtschaftssystem vollkommen beiseite gelassen haben. Was ist denn die Folge dieser Unterlassungssünde gewesen? Sie sehen neue Grenzen, neue Maße, neue Gewichte, neue Usancen1, neue Münzen, ein fortwährendes Stocken des Verkehrs. […] Wo bleibt in Europa die europäische Münze, die europäische Briefmarke? Sind diese aus nationalem Prestige heraus geborenen Einzelheiten nicht sämtlich Dinge, die durch die Entwicklung der Zeit längst überholt wurden und diesem Erdteil einen außerordentlichen Nachteil zufügen, nicht nur im Verhältnis der Länder zueinander, nicht auch nur in dem Verhältnis zu den Weltteilen, draußen, sondern auch im Verhältnis anderer Weltteile, die sich oft viel schwerer in diese Dinge hineinversetzen können als ein Europäer, der es allmählich auch nicht mehr versteht? Henry Bernhard (Hrsg.), Gustav Stresemann. Vermächtnis. Der Nachlass in drei Bänden, Bd. 3, Berlin 1933, S. 577 f. 1. Erläutern Sie, in welcher Hinsicht die Entwicklung Europas für Stresemann rückwärts gegangen ist. 2. Prüfen Sie, ob sich heutige Protagonisten der europäischen Einigung auf Stresemann und Briand berufen können. Begründen Sie Ihren Befund. 1 Usance (frz.): „Brauch“ 5 10 15 20 25 313Außenpolitik zwischen Revision und Annäherung Nu r z u Pr üf zw ke Ei ge nt um d es C .C .B uc h r V e la gs | |
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