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M3 Blutdurst, Beutegier und Frömmigkeit Der Londoner Kreuzzugshistoriker Thomas Asbridge beurteilt die Einnahme von Jerusalem so: Die drei Jahre voller Kämpfe, Entbehrungen und Sehnsucht [mündeten] in eine alles verwüstende Sturzfl ut barbarischen, wahllosen Abschlachtens. Ein Kreuzfahrer [...]: Einige Heiden wurden gnädigerweise enthauptet, andere, durchbohrt von Pfeilen, stürzten von Türmen, und wieder andere, die man lange Zeit gefoltert hatte, gingen in lodernden Flammen zugrunde. Haufen abgeschlagener Köpfe, Hände und Füße lagen in den Häusern und Straßen; Mannschaften und Ritter eilten auf den Leichen hin und her. Viele Muslime fl ohen zum Tempelberg, wo sich einige zusammentaten und für kurze Zeit Widerstand leisteten. [...] Kreuzfahrer durchstreiften die Stadt nach Beute und schlachteten wahllos Männer, Frauen und Kinder ab, Muslime und Juden. [...] Im 13. Jahrhundert schätzte der irakische Muslim Ibn alAthir die Zahl der muslimischen Toten auf 70 000. Moderne Historiker hielten diese Zahl lange Zeit für eine Übertreibung, aber die lateinischen Schätzungen von mehr als 10 000 Toten nahmen sie als wahrscheinlich hin. Jüngste Forschungen förderten jedoch eine zeitgenössische hebräische Quelle zutage, die darauf hinweist, dass die Zahl der Opfer kaum über 3 000 ging und dass [...] sehr viele Gefangene gemacht wurden. Daraus kann man schließen, dass schon im Mittelalter die Vorstellung von der Brutalität der Kreuzfahrer im Jahr 1099 auf beiden Seiten des Konfl ikts ein Gegenstand von Übertreibung und Manipulation gewesen ist. [...] Gewiss, es wurden einige Einwohner Jerusalems verschont [...]. Doch war das fränkische Massaker nicht lediglich ein ungezähmter Ausbruch unterdrückter Wut, vielmehr handelte es sich um eine kaltblütig durchgeführte Mordaktion, die mindestens zwei Tage andauerte. [...] Die andere Wahrheit über die Eroberung Jerusalems, die nicht zu leugnen ist: Die Kreuzfahrer waren nicht einfach nur von Blutdurst oder Beutegier getrieben; es erfüllte sie auch tiefe Frömmigkeit und die echte Überzeugung, Gottes Werk auszuführen. Entsprechend ging der erste grauenhafte Tag des Plünderns und Abschlachtens mit einem Gottesdienst zu Ende. Als die Sonne am 15. Juli unterging, versammelten sich die Franken zu tränenreichem Dank an ihren Gott, ein Bild, das wie kaum ein zweites die uns paradox anmutende Vermischung von Gewalt und Glauben veranschaulicht. [...] Nach Jahren verzweifelter Leiden und Kämpfe war das schreckliche Werk der ersten Kreuzfahrer vollendet: Jerusalem befand sich in christlicher Hand. Thomas Asbridge, Die Kreuzzüge, Stuttgart 2010, S. 116 118 1. Erklären Sie, warum es a) auf christlicher und b) auf muslimischer Seite zu einer Übertreibung der Opferzahlen kommen konnte. 2. Beurteilen Sie die „paradox anmutende Vermischung von Gewalt und Glauben“ (Z. 40 f.). M4 „... wie ein Erdbeben oder eine Schlangenplage“ In seiner „Globalgeschichte aus islamischer Sicht“ schildert der afghanisch-amerikanische Autor Tamim Ansary die Auswirkungen der Einnahme Jerusalems auf die islamische Welt: Die Eroberung von Jerusalem war der Höhepunkt der Invasion. […] Auf der muslimischen Seite konnte einem angesichts der fehlenden Einigkeit die Luft wegbleiben. Sie hing unter anderem damit zusammen, dass sich die Muslime der ideologischen Dimension der Gewalt zunächst gar nicht bewusst waren. Sie hatten das Gefühl, sie würden nicht als Muslime angegriffen, sondern als Individuen, als Städte und als Zwergstaaten. Die Gewalt der Frandsch [arab. Bezeichnung für die „Franken“] brach als schreckliche, wenngleich vollkommen sinnlose Katastrophe über sie herein, […]. Nach dem Blutbad von Jerusalem versuchten zwar einige Prediger, den muslimischen Widerstand zu mobilisieren, indem sie den Angriff als Glaubenskrieg bezeichneten. Einige prominente Religionsgelehrte hielten Predigten, in denen sie zum ersten Mal seit langer Zeit das Wort Dschihad in den Mund nahmen, doch ihre Ansprachen verfehlten ihre Wirkung völlig. Das Wort Dschihad klang in muslimischen Ohren fremd, denn es war seit Jahrhunderten nicht mehr in Gebrauch, was unter anderem daran lag, dass sich der Islam so rasch ausgebreitet hatte und die Mehrheit der Muslime so weit von den Grenzen des Reiches entfernt lebte, dass sie niemals im Namen des Dschihad gegen einen Feind kämpfen mussten. Das Gefühl der frühen Muslime, sie müssten gegen die ganze Welt antreten, war längst dem Gefühl gewichen, dass der Islam die ganze Welt war. Seit Menschengedenken war es in den Kriegen um solche Kleinigkeiten wie Land, Rohstoffe und Macht gegangen. In den wenigen Auseinandersetzungen, die vorgeblich um hehre Ideale ausgetragen worden waren, hatte nicht der Islam gegen einen anderen Glauben gestanden, sondern es war darum gegangen, wessen Islam der wahre Islam war. Tamim Ansary, Die unbekannte Welt. Eine Globalgeschichte aus islamischer Sicht, Frankfurt am Main/New York 2010, S. 150 f. Arbeiten Sie heraus, wie Ansary die Niederlage der islamischen Städte und das Scheitern eines islamischen Widerstandes gegen die „Frandsch“ begründet. 5 10 15 20 25 30 35 40 5 10 15 20 25 30 55Kreuzzugsbewegungen Nu r z u P üf zw ec ke Ei g nt um d s C .C .B uc h r V er ag s | |
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