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337 Aufarbeitung von Schuld und Verantwortung „Schlussstrich-Mentalität“ Gegen Ende der Besatzungszeit wandelte sich die Bewertung der justiziellen Aufarbeitung in der Bevölkerung. 1949 hielt nur noch jeder Dritte Deutsche die Nürnberger Prozesse für gerecht. Ein Großteil sah sich als „Opfer Hitlers“ und – nach Jahren der Entnazifi zierung und Umerziehung – auch als „Opfer der Alliierten“ und ihrer „Siegerjustiz“. Die Bevölkerung glaubte, die Vergangenheit nun genügend „aufgearbeitet“ zu haben. Eine „Schlussstrich-Mentalität“ machte sich breit, weil, so meinten viele, die eigentlichen Schuldigen schon längst bestraft worden seien. Regierung, Parlament und Medien ließen es in dieser zweiten Phase, der „Phase der Vergangenheitspolitik“, an eindeutigen Verurteilungen des NS-Regimes und seiner Verbrechen nicht fehlen. Bundespräsident Theodor Heuss kritisierte wiederholt alle Tendenzen zur Verdrängung der Vergangenheit und unterstrich immer wieder die Ehrenhaftigkeit der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 und anderer Gegner des Nationalsozialismus. Dennoch blieb der Umgang mit der jüngsten Vergangenheit in der Adenauer-Ära zwiespältig.1 Auf Druck der Amerikaner und gegen den Willen großer Teile der Bevölkerung verpfl ichtete sich die Bundesrepublik 1952 im Luxemburger Abkommen zu umfangreichen Entschädigungszahlungen für die jüdischen Opfer. Vergleichbare „Wiedergutmachungen“ leistete die DDR nicht.2 „Vergangenheitsbewältigung“ Erst mit der Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen (kurz: Zentralstelle oder Zentrale Stelle) 1958 in Ludwigsburg und der systematischen strafrechtlichen Verfolgung von NS-Tätern in den Vernichtungslagern begann in der Bundesrepublik eine neue Phase im Umgang mit der Vergangenheit (u M2). 1961 wurde Adolf Eichmann, dem Organisator der jüdischen Deportationen, in Jerusalem der Prozess gemacht3; 1963 bis 1965 folgte der Frankfurter Auschwitz-Prozess, dem sich weitere Verfahren (Majdanek-Prozess 1975/81 in Düsseldorf) anschlossen. 750 weitere NS-Täter wurden seit Gründung der Ludwigsburger Zentralstelle 1958 rechtskräftig verurteilt. Die großen NS-Prozesse der 1960er-Jahre förderten das ganze Ausmaß der Massenvernichtung zutage und die Medien sorgten dafür, dass die Auseinandersetzung mit den Verbrechen zu einer öffentlichen Angelegenheit wurde. Das mit den Prozessen veröffentlichte Aktenmaterial zeigte, wie weit die NS-Herrschaft in alle Bereiche von Staat und Wirtschaft hineingereicht hatte und wie groß die Unterstützung gewesen war, die sie dort gefunden hatte. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit wurde buchstäblich im Gerichtssaal über die Verbrechen des Nationalsozialismus aufgeklärt. Die Menschen sahen die NS-Herrschaft nicht mehr nur als verhängnisvollen „Betriebsunfall“ an oder hielten allein einen kleinen Kreis um Hitler für das „Dritte Reich“ verantwortlich. Ein Umdenken setzte ein und damit die dritte Phase, die „Phase der Vergangeni Wahlplakat der Freien Demokratischen Partei (FDP) zur Bundestagswahl 1949. 1 Vgl. dazu im Kapitel „Deutsches Selbstverständnis nach 1945“ Seite 389 f. 2 Vgl. ebd. Seite 390. 3 Vgl. dazu auch M2 auf Seite 460 f. Lesetipp Fritz Bauer Institut (Hrsg.), „Gerichtstag halten über uns selbst ...“. Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, Frankfurt am Main 2001 32015_1_1_2015_Kap3_260-351.indd 337 01.04.15 11:01 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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