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349 kratischem Wahlrecht, selbstständiger Arbeiterbewegung und „Kanzlerdiktatur“. Und diese Arbeiterbewegung verlor durch die – vielleicht allzu – frühe Parteigründung die Chance einer sozialliberalen Koalition mit dem Liberalismus, ehe sie sich [...] in einem eigenen sozialmoralischen Milieu einigelte – und damit auch isolierte. Letztlich entscheidend für den deutschen „Sonderweg“ wurde aber das politische Herrschaftssystem. Denn nur in Deutschland, als einzigem westlichen Land, setzte sich mit der Reichsgründung zwanzig Jahre lang eine charismatische Herrschaft in der Gestalt des Bismarckregimes durch. Die Sonderstellung der Kanzlerpersönlichkeit hat nicht nur in der formativen Phase eines soeben erst geschaffenen Staates die Grundelemente der Politischen Kultur geprägt und das kulturelle Gedächtnis besetzt. Vielmehr hat sie auch auf lange Sicht eine verhängnisvolle Anfälligkeit geschaffen: von Ludendorff über den „Ersatzkaiser“ Hindenburg bis hin zum neuen Charismatiker, dem „zweiten Bismarck“ seit 1933. All diese Phänomene waren mit wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Spitzenleistungen durchaus vereinbar. Sie haben aber die politische Kollektivmentalität verformt und die Chancen liberaler und demokratischer Politik, damit von Problembewältigung in gesellschaftlicher Eigenverantwortung rigoros reduziert, dagegen die plebiszitäre Akklamation und Loyalität gegenüber dem „Führer“ strukturell ermöglicht. Die wenigen glücklichen Jahre der Weimarer Republik können das „Sonderweg“-Argument nicht entkräften. Erst der aberwitzige Preis für den „Deutschen Weg“ in die Moderne hat ihm jede Attraktivität genommen. Hans-Ulrich Wehler, Umbruch und Kontinuität: Essays zum 20. Jahrhundert, München 2000, S. 84 ff. 1. Geben Sie wieder, was unter dem „deutschen Sonderweg“ verstanden wird. 2. Arbeiten Sie die Kriterien heraus, die laut Wehler für den Sonderweg der Deutschen kennzeichnend gewesen sind. Stellen Sie Ihre Ergebnisse in einem Schaubild zusammen. 3. Beurteilen Sie die genannten Faktoren. Fallen Ihnen weitere Argumente zur Untermauerung oder zur Kritik an der Sonderwegs-These ein? Vergleichen Sie dazu auch das Kapitel „Die Weimarer Republik und ihre Bürger“ ab Seite 352, vor allem M11 auf Seite 378 f. M2 „Sonderwege“ und „Normalwege“ in der Geschichte? Der Historiker Horst Möller gibt auf einer Tagung im November 1981 im Hinblick auf den deutschen „Sonderweg“ Folgendes zu bedenken: Grundsätzlich ist festzustellen: Die Diskussion über den „deutschen Sonderweg“ ist immer geprägt worden durch fundamentale Erschütterungen, seien es nun Revolutionen oder Kriege. Und diese Erschütterungen haben jeweils zu spezifi schen Wertungen mit politischer Pointe geführt. Solche aus lösenden Erschütterungen waren die Revolutionen von 1848/49, der Erste Weltkrieg, die Revolution von 1918/19, die NS-Machtergreifung 1933 und auch das Kriegsende 1945. Ein Blick auf die Sonderwegsvorstellungen nach diesen Daten lässt jedesmal eine Veränderung in der Bewertung erkennen. [...] Die Rede vom deutschen Sonderweg impliziert zweierlei: Einmal impliziert sie die Annahme, dass es in der Geschichte Normalwege gibt, und zweitens impliziert sie – zumindest der Intention nach – einen Vergleich, denn sonst könnte man nicht sinnvoll vom Sonderweg sprechen. Hört der Historiker den Begriff Sonderweg einer Nation, dann antwortet er normalerweise: In der Geschichte gibt es, streng genommen, nur Sonderwege. Insofern ist es nichts Besonderes, vom „deutschen Sonderweg“ zu sprechen: Jeder europäische Staat – und natürlich auch die außereuropäischen Staaten – hat gewissermaßen einen Sonderweg in die Moderne beschritten. Gerade eine tiefere historische Betrachtung demonstriert schnell: Die Prämisse eines Normalwegs ist nicht verifi zierbar und außerordentlich fragwürdig. Dies umso mehr, als sie meist eine Idealisierung des vermeintlichen Normalwegs impliziert. So etwa die Annahme, England – der Staat, in dem die moderne parlamentarische Demokratie am frühesten verwirklicht worden ist – habe den historischen Normalweg beschritten. Nun stellen die Historiker immer wieder fest: Gerade die historische Entwicklung Englands kann – verglichen mit der anderer europäischer Staaten – als Sonderweg par excellence gelten. Auch erweist sich jede Idealisierung schnell als unbegründet, wenn man sich die englische „Demokratie“ des 19. Jahrhunderts vorurteilsfreier ansieht: Bis zu den letzten Wahlrechtsreformen der achtziger Jahre war England keineswegs eine moderne Demokratie. Man kann sogar sagen, das Wahlrecht des Deutschen Kaiserreichs von 1871 war während des ersten Jahrzehnts moderner als das englische. […] Schließlich: Es muss bei einem komparatistischen Vorgehen dieser Art begründet werden, warum England und Frank65 70 75 80 85 90 5 10 15 20 25 30 35 40 32015_1_1_2015_Kap3_260-351.indd 349 01.04.15 11:01 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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