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437Ostalgie M1 DDR-Nostalgie Der ostdeutsche Historiker Stefan Wolle (*1950) schreibt im Jahre 2009 über die verbreitete DDR-Nostalgie: Für die grassierende Sehnsucht nach der machtgeschützten Idylle des Mauerländchens sind weder die Medien noch die Schulen verantwortlich. Die Ostalgieshows, OstprodukteMessen und DDR-Partys bedienen das Heimweh nach der Vergangenheit, haben es aber nicht erfunden; der SED-Nachfolgeverein mit dem häufi g wechselnden Namen1 instrumentalisiert die Sehnsucht nach dem treu sorgenden Staat, hat sie aber nicht geschaffen. Die Wurzeln für die seltsamen Wandlungen in der Erinnerungswelt liegen tiefer – in der konkreten Lebenswirklichkeit vor und nach dem Umbruch von 1989/90, im Alltag der DDR, im normalen Leben und Erleben der Menschen. […] Die zentrale Kategorie zur Erklärung der DDR ist der Begriff der Sicherheit. […] Zum einen meinte Sicherheit den Frieden, der von der Sowjetunion und den bewaffneten Organen der DDR beschützt wurde – und nicht zuletzt durch das Sicherheitsorgan, das Ministerium für Staatssicherheit (MfS)2 […]. Sicherheit meinte aber auch soziale Sicherheit, vor allem die Sicherheit des Arbeitsplatzes. Aufgrund des niedrigen technologischen Niveaus der Wirtschaft sowie der Republikfl ucht bis 1961 herrschte in der DDR ein akuter Arbeitskräftemangel. Es gab sogar eine reguläre Arbeitspfl icht. Wer ohne ständige Beschäftigung war, musste mit Ärger rechnen, der bis zu einem halben Jahr Arbeitserziehung gehen konnte. Man wechselte seltener den Wohnort und den Arbeitsplatz als in der westlichen Gesellschaft. Zwischen dem Betrieb und den Werktätigen gab es oft eine feste Bindung. Es war nicht ungewöhnlich, dass Belegschaftsmitglieder schon im Betrieb gelernt hatten, später zum Studium delegiert wurden, dann vom Betrieb eine Wohnung erhielten, ihre Kinder in die Obhut der betrieblichen Einrichtungen gaben und ihren Urlaub im Betriebsferienheim verbrachten. Man muss dies wissen, um zu begreifen, welch schwerer Schlag für viele Menschen nach 1990 der Verlust des Arbeitsplatzes war […]. Die Menschen defi nierten sich über ihre Arbeit. Arbeit war Sinnerfüllung, Teilnahme an einem großen Aufbauwerk. […] Sicherheit im Alltag bot vor allem das Kollektiv. Das ist das zweite Schlüsselwort zum Verständnis der Alltagsrealität der DDR. […] Das Kollektiv war – ganz wie die Mauer – Schutzraum und Gehäuse der Hörigkeit, sei es nun das Klassenkollektiv, das FDJ-Kollektiv, das Arbeitskollektiv oder die Hausgemeinschaft. Es war Transmissionsriemen für die Durchsetzung der politischen Vorgaben der Partei, Instrument der Sozialkontrolle und ideologische Kontrollinstanz – aber auch eine Hilfe bei der Bewältigung von Alltagsproblemen: Bei Umzügen und Wohnungsrenovierungen sprangen die Kollegen ein, denn Möbelwagen und Malerfirmen waren teuer und schwer zu bekommen. […] Das dritte Grundelement des Alltagslebens war der ständige Mangel. Der Zusammenhang von Sicherheit und Mangel leuchtet auf den ersten Blick nicht ein. Doch es war gerade die Furcht vor Unsicherheit, die jeden Einspruch der Wirtschaftsfachleute ins Leere laufen ließ. Aus Furcht vor einer politischen Destabilisierung hatte Erich Honecker feste Endverbraucherpreise verordnet. Das erwies sich als sicheres Mittel, die Wirtschaft zu ruinieren. Es entstand ein permanenter Geldüberhang oder, umgekehrt ausgedrückt, ein Mangel an Leistungen und Waren. […] Die DDR-Bewohner entwickelten sich zu einem Volk der Jäger und Sammler, immer auf der Pirsch. So wie die Jäger in der Wildnis waren sie gute Fährtensucher, kannten die Lieferzeiten oder bekamen Tipps von den Angehörigen des Verkaufsstellenkollektivs. Man sah eine Schlange, stellte sich an und fragte dann, was es denn gebe. […] Nicht dass in der DDR Hunger geherrscht hätte: Im Gegenteil, es wurde mehr gefuttert und getrunken, als der Gesundheit zuträglich war. Was fehlte, waren Qualität und Auswahl, vor allem aber Kontinuität. […] Als die eiserne Klammer des Zwangssystems fi el, wurden die eingeübten Überlebensstrategien der Mangelgesellschaft gegenstandslos. Die relative Gleichheit der sozialistischen Einheitsgesellschaft wich schnell einer neuen Ungleichheit zwischen den Verlierern und den Gewinnern der „Wende“. Es waren vor allem die Schattenseiten der Marktwirtschaft, mit denen die Bewohner der neuen Länder nun in Berührung kamen. Die politischen Parolen und Symbole der SED-Herrschaft wurden ersetzt durch eine grelle und allgegenwärtige Werbung. Die alte Verlogenheit war durch eine neue abgelöst worden. Diese Gesellschaft sonderte einen beträchtlichen Prozentsatz der erwerbsfähigen Bevölkerung als nicht brauchbar aus. Menschen, deren Selbstwertgefühl sich aus ihrer berufl ichen Tätigkeit ergab, fühlten sich plötzlich nutzlos. In der DDR war das Leben des Einzelnen eingebunden gewesen in eine Art kollektive Sinnerfüllung. Fleißige Arbeit im Betrieb und gesellschaftliche Tätigkeit im Wohnbezirk wurden geehrt und geachtet. […] Die Notgemeinschaft des Alltags und die Zwangsgemeinschaft des repressiven Staates bildeten eine seltsame Mischung. Es gab ein Grundgefühl dafür, dass jeder seinen Platz, seinen Wert und seine Aufgabe hatte. 1 Gemeint ist hier die Partei Die Linke. 2 Zum Ministerium für Staatssicherheit siehe Seite 116 und Seite 128. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 32015_1_1_2015_Kap4_420-441.indd 437 01.04.15 11:03 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la s | |
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