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73Auswirkungen im Reich und auf Europa M1 „Wir wöllen frei sein“ Der Historiker Peter Blickle setzt sich im Zusammenhang mit dem Bauernkrieg von 1525 mit den Begriffen „Freiheit“ und „Leibeigenschaft“ auseinander: Kein Herrschaftsrecht stand um 1500 unter einem dermaßen großen Legitimationsdruck wie das über den Leib, Leibeigenschaft genannt. Ihre Umkehrung hieß Freiheit. Auf allen gesellschaftlichen Ebenen, unter Bürgern und Bauern, Juristen und Theologen wurde sie diskutiert, auf allen politischen Ebenen wurde sie verhandelt, von der Dorfgemeindeversammlung bis hinauf in das erlauchteste ständische Gremium der Zeit, den Reichstag. Als geprägter und inhaltlich scharf konturierter Begriff tritt Freiheit in den Zwölf Artikeln der oberschwäbischen Bauern von 1525 in Erscheinung, deren dritter ausdrücklich fordert, „das wir frei seien und wöllen sein“, und darunter die Aufhebung der Leibeigenschaft […] versteht. Die Drucke der Zwölf Artikel in Augsburg und Breslau, Konstanz und Magdeburg, Nürnberg und Regensburg, Erfurt und Straßburg belegen die Durchschlagskraft der Freiheitsforderung bei den deutschen Bauern. Radikalität und Prägnanz gewann der bäuerliche Freiheitsbegriff durch seine Verknüpfung mit dem Evangelium. „Zum dritten“, heißt es in den Zwölf Artikeln, „ist der Brauch bisher gewesen, das man uns für eigen Leüt gehalten hat, wölchs zuo Erbarmen ist, angesehen das uns Christus all mit seinem kostparlichen Bluotvergüssen erlößt und erkauft hat.“ Die Begründung der Freiheit mit dem Erlösertod Christi wird ergänzt durch die Hoffnung der Bauern, sie „seien auch on Zweifel, ir [die Herren] werdend uns der Eigenschaft als war und recht Christen geren entlassen oder uns im Evangeli des berichten, daz wirs seien“. Aus dem Evangelium ziehen die Bauern die dreifache Begründung der Freiheit mit dem Erlösertod Christi, der christlichen Nächstenliebe und der von Gott in die Welt gelegten Rechtsordnung des Naturrechts. Das war die Hermeneutik1 der Betroffenen, die sich auf diese Weise das Evangelium erschloss. Sie wäre ohne die Reformation und ihren Rückgriff auf das Evangelium als alleiniger Norm für Theologie und Glauben schwer möglich gewesen. Nicht ohne Grund baten die Bauern die Reformatoren mittels eines gedruckten Aufrufs, der ausdrücklich Richterliste heißt, um Gutachten zu ihren Artikeln, also auch dem Leibeigenschaftsartikel. Dass gerade Bauern das Problem der Unfreiheit gewissermaßen auf einen prinzipiellen theologischen, juristischen und ethischen Punkt brachten, war nicht selbstverständlich, denn neben ihnen gab es nicht wenige Bürger, namentlich in den landesherrlichen Städten, die nicht minder leibeigen waren als sie selbst. Aus zahlreichen württembergischen Amtsstädten liegen Urkunden vor, ausgestellt von Schultheiß, Richtern und Bürgern, in denen die Bürgerschaften versprechen, sich ihrem Grafen nicht zu „entfremden […], weder mit unsern Leibern, Weiben, Kinden noch Guten“. Den Leib darf man nicht entfremden, das ist Leibeigenschaft. Württemberg war kein Sonderfall. Von den meisten Reichsstädten abgesehen, gehört die Freiheit nicht zu den Statusrechten von Bürgern. Noch im frühen 18. Jahrhundert waren die Bregenzer Leibeigene. Aber unbestreitbar war das Problem in der ländlichen Gesellschaft besonders drängend und dringend. Peter Blickle, Der Bauernkrieg. Die Revolution des Gemeinen Mannes, München 32006, S. 55 f. und 61 f. 1. Geben Sie Blickles Freiheitsbegriff wieder. 2. Fassen Sie die mit der Leibeigenschaft verbundenen Pfl ichten und Beschränkungen zusammen. Welche Bevölkerungsgruppen waren betroffen? 3. Erklären Sie, warum die Leibeigenschaft um 1500 „unter einem dermaßen großen Legitimationsdruck“ (Zeile 1 f.) stand. Welche Rolle spielte dabei die Reformation? 4. Erläutern Sie die Ursachen der Erhebung von 1525. Ziehen Sie die „Zwölf Artikel“ der oberschwäbischen Bauern von 1525 hinzu (siehe den Code 32015-03) und analysieren Sie die Hauptforderungen. Wie werden diese begründet? 5. Welche Vorstellungen von „Freiheit“ werden in den „Zwölf Artikeln“ deutlich? Defi nieren Sie, wie die Bauern sie verstehen. Vergleichen Sie mit einer modernen Begriffsbestimmung. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 i Die „Zwölf Artikel“ der Bauern. Titelblatt eines Druckes aus Zwickau von 1525. In den „Zwölf Artikeln“ fasste der Kürschner Sebastian Lotzer 1525 die Forderungen der aufständischen Bauern an die „weltlichen und geistlichen Obrigkeiten“ zusammen. Sie waren das Resultat wochenlanger Beratungen oberschwäbischer Bauern. Nach ihrer Veröffentlichung in Augsburg wurden die „Zwölf Artikel“ bald in einem Dutzend Städte vom Südwesten des Reiches bis nach Sachsen nachgedruckt und auf Messen und Jahrmärkten verbreitet. 1 Hermeneutik (von griech. herme–neuein: (Gedanken) ausdrücken, (etwas) interpretieren, übersetzen): in Antike und Mittelalter die Wissenschaft und Kunst der Auslegung von Kunst oder Texten; in der Neuzeit die Lehre der sachgerechten Interpretation 70 32015_1_1_2015_Kap1_008-081.indd 73 01.04.15 10:57 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B uc hn er V er la gs | |
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