Volltext anzeigen | |
75Auswirkungen im Reich und auf Europa M4 Die Religion wird überwacht Der neue Kurfürst der Pfalz, Ottheinrich (1502 1559, Kurfürst von 1556 bis 1559), beginnt sofort nach seinem Amtsantritt, eine evangelische Kirchenordnung im pfälzischen Territorium (Oberrhein, Oberpfalz) durchzusetzen. Dazu führen seine Amtsträger 1556 eine Visitation aller Gemeinden durch, um eine Bestandsaufnahme des kirchlichen Lebens vorzunehmen und es nachfolgend zu verbessern. Derartige Visitationen fi nden seit Mitte des 16. Jahrhunderts in katholischen wie evangelischen Territorien statt. Abschließend fassen die pfälzischen Visitatoren ihre Beobachtungen zusammen: Die gewöhnlichen Mängel und Fehler aber sind zweierlei – etliche betreffen die Kirchen und Gemeindemitglieder, etliche die Pfarrer und Kirchendiener. Bei den Kirchen und der Gemeinde ist das zum Ersten der seltene und liederliche Kirchgang. Die Leute gehen gar nicht oder doch verspätet in die Kirche, um die Predigt zu hören. Zum anderen ist die Verachtung und Geringschätzung des heiligen Sakraments ein Mangel […]. Zum Dritten ist ein Mangel, dass außer an wenigen Orten kein Katechismus gehalten wurde. Und selbst wenn von etlichen Pfarrern bereits damit begonnen wurde, mussten sie doch wieder aufhören, weil weder Alt noch Jung zu solcher Predigt und solchem Unterricht in die Kirchen gekommen sind. [Viertens würden nach der Sakramentsspendung keine Almosen aufgebracht. Die Baugefälle für die Kirchen würden zweckentfremdet. …] Zum Sechsten sind noch immer in vielen Kirchen allerlei abgöttische Bilder, Altartafeln, Kreuzfahnen und andere papistische1 Zeremonien üblich, an denen das gewöhnliche Volk hängt und damit abergläubische Praktiken betreibt. [Siebtens verfaulten Messgewänder und anderes Tuch. Die Visitatoren empfehlen, dass der Kurfürst ein gedrucktes Mandat erlassen sollte, das auf Abstellung der Missbräuche dringe; der Bericht gibt Hinweise, was dieses Mandat zu berücksichtigen habe. Abschließend werden die bei den Pfarrern und Kirchendienern beobachteten Fehler und Mängel angesprochen:] Fürs Erste sind die alten Pfarrer, die zum Großteil katholisch aufgezogen wurden, nichts anderes gewohnt – und haben es auch gelernt – als das Verlesen der Messe. Und jetzt wird ihnen sauer zumute wie alten Weinschläuchen, da es ihnen schwer fallen mag, den neuen Most der evangelischen Lehre zu fassen. Die Jungen haben aber auf keiner rechtschaffenen Universität studiert, sondern allein in den Partikularschulen […] [Zweitens wird auf die schlechte Besoldung der Pfarrer hingewiesen, die sich so sehr um ihren Lebensunterhalt bemühen müssten, dass sie keine Zeit hätten, zu studieren und ihren seelsorger lichen Auf gaben nachzukommen. Die Gemeindemitglieder würden ungern geben, die Pfarrer seien unzufrieden und ließen sich „geizige Pfaffen“ schelten. Die meis ten kämen – drittens – auf nicht mehr als 40 50 Gulden im Jahr2, was nicht zur Haushaltsführung ausreiche, geschweige denn dazu, Kleider und Bücher zu kaufen. Dabei seien die Kirchen der Pfalz nicht arm.] Bernd Roeck, Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Bd. 4: Gegenreformation und Dreißigjähriger Krieg, 1555 1648, Stuttgart 1996, S. 37 39 (außerhalb der Klammern Übertragung: Maximilian Lanzinner) 1. Arbeiten Sie die Ziele der Visitatoren heraus, die sich aus ihrem Mängelbericht ableiten lassen. 2. Charakterisieren Sie den Zustand des kirchlichen Lebens, wie ihn der Bericht zusammenfassend beschreibt. 3. Der Kurfürst veranlasste die Visitation, die von weltlichen und kirchlichen Amtsträgern durch geführt wurde. Erläutern Sie, warum die weltliche Macht die Kontrolle über das kirchliche Leben anstrebte. M5 Auswirkungen der Reformation auf die Frauen In einer Fachpublikation von 2011 heißt es: Für die neuere Forschung ist […] die Frage wichtig geworden, ob sich denn mit der Reformation tatsächlich die Rolle der Frau in Familie, Kirche und Gesellschaft veränderte. Dabei richtet sich der Blick besonders auf Luthers Eheverständnis. Getragen von der Überzeugung, dass vor Gott alle Menschen gleich seien, gehörte eine gewisse Partnerschaftlichkeit zwischen Mann und Frau zu den neuen Wesensmerkmalen des verheirateten Paares. Die Ehefrauen der großen Reformatoren, Katharina von Bora, Katharina Melanchthon (1497-1557), Anna Zwingli (1484-1538) oder Idelette Calvin (1507-1549), verkörperten diesen neuen Typus der „besseren Lebensgefährtin“ (Calvin). Aufgewertet wurde aber nicht nur ihre Rolle als Ehefrau, sondern auch als Haushaltsmanagerin und Mutter. Damit rückten das alltägliche Familienleben, die Geburt und Erziehung von Kindern stärker in den Horizont der Reformatoren. Seelsorge an schwangeren und gebärenden Frauen wurde beispielsweise ein neues Thema, mit Trostschriften für schwangere und gebärende Frauen oder Leichenpredigten für Kinder. Auch die Stellung der Hebamme wurde durch die Reformation aufgewertet, denn in den neuen reformatorischen Kirchenordnungen erhielt der Pfarrer eine Art mentale und wirtschaftliche Fürsorgepfl icht für die Hebammen. Ob all diese stärkere Diesseitigkeit allerdings zu mehr Gleich5 10 15 20 25 30 35 40 1 papistisch: hier abwertend für katholisch 2 Zum Vergleich: Ein Tagelöhner kam auf 30 Gulden im Jahr. 5 10 15 20 32015_1_1_2015_Kap1_008-081.indd 75 01.04.15 10:57 Nu r z u Pr üf zw ec ke n Ei ge nt um d es C .C . B u hn r V er la gs | |
« | » |
» Zur Flash-Version des Livebooks |