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M1 Schutzzölle – eine Ursache der „Großen Depression“? a) Die Auswirkungen des Einfuhrzoll-Gesetzes („Smoot-HawleyTariff“) vom 17. Juni 1930 auf die „Große Depression“ sind umstritten. Der Wirtschaftshistoriker Charles Kindleberger argumentiert 1973 so: Es gab 34 oder 38 formelle Proteste ausländischer Regierungen. […] Frankreich und Italien erhöhten die Automobilzölle im März 1929. Indien setzte die Zölle auf Textilien im Februar 1929 herauf. Eine neuerliche generelle Zollerhöhung gab es im April 1930 in Australien. Kanada, betroffen von den Zöllen auf viele Ernährungsgüter, auf Rohund Schnittholz, hat die Zölle dreimal bis August 1932 erhöht. […] In der Schweiz, die sich gegen die erhöhten Abgaben auf Uhren, Stickereien und Schuhe wandte und einen Boykott amerikanischer Waren unternahm, in Italien, das sich gegen die Zölle auf Hüte […] und Olivenöl wandte, ergriff man am 30. Juni 1930 Repressalien gegen amerikanische (und französische) Autos. Kuba, Mexiko, Frankreich, Australien und Neuseeland erließen ebenso neue Tarife. […] Zwar haben Zölle auch Auswirkungen auf Volkseinkommen und Zahlungsbilanz, welche sich verstärken, wenn die Zollmauern durch wechselseitige Vergeltungsmaßnahmen immer höher werden, doch besteht die Hauptwirkung einer Zollerhöhung durch ein einziges Land darin, die Allokation1 der Produktionsfaktoren und die Einkommensverteilung zu verändern. Zudem wird der negative Effekt auf die Exporte des Auslands bis zu einem gewissen Grade durch die positive Wirkung auf das Inlandseinkommen ausgeglichen. Die Abnahme der Importe wird teilweise rückgängig gemacht durch die Einkommenszunahme aufgrund der Umlenkung der Nachfrage von Auslandsauf Inlands güter. Die Unterzeichnung des Gesetzes war „ein Wendepunkt in der Weltgeschichte“2, nicht aus wirtschaftlichen Gründen im engen Sinn, sondern weil dadurch klar wurde, dass sich für die Weltwirtschaft niemand zuständig fühlte. b) Der Wirtschaftshistoriker Peter Temin kommt 1994 zu folgender Einschätzung: Die These, das Smoot-Hawley-Zollgesetz sei eine wichtige Ursache der Depression gewesen, hält sich dauerhaft. […] Trotz ihrer Popularität irrt dieses Argument aus sowohl theoretischen als auch aus historischen Gründen. Ein Zoll ist wie eine Abwertung eine expansionistische Maßnahme. Er leitet Nachfrage von ausländischen Herstellern zu einheimischen Produzenten um. Er kann dadurch ungewollt bei einheimischen Herstellern Ineffi zienz schützen, aber das ist ein nachrangiger Effekt. Der Smoot-Hawley-Zoll mag auch Staaten verletzt haben, die in die USA exportierten. Das populäre Argument besagt aber, dass diese Zölle die amerikanische Depression verursacht hätten. Das Argument müsste genauer lauten, dass die Zölle die Nachfrage nach amerikanischen Exporten verminderte, indem es ausländische Vergeltungszölle hervorrief. Die Exporte betrugen im Jahre 1929 sieben Prozent des Bruttosozialprodukts. Im Laufe der folgenden zwei Jahre fi elen sie um 1,5 Prozentpunkte. Wenn man die sinkende Weltmarktnachfrage in diesen Jahren berücksichtigt, dann kann dieser Rückgang nicht vollständig auf Vergeltungsmaßnahmen gegen die Smoot-Hawley-Zölle zurückgeführt werden. Selbst wenn man dies tut – das reale BSP fi el in diesen Jahren um über 15 Prozent. Bei der Anwendung eines jeden vernünftigen Multiplikationsfaktors kann der Fall der Exportnachfrage nur einen kleinen Teil der Erklärung liefern. Und der Rückgang der Exportnachfrage wurde teilweise ausgeglichen durch den zollbedingten Anstieg der Inlandsnachfrage. Ein möglicher negativer Effekt der Zölle war gering. Erster Text: Charles P. Kindleberger, Die Weltwirtschaftskrise 1929-1939, München 2010, S. 170-172 (übersetzt von Michael Ledig; stark gekürzt und vereinfacht) Zweiter Text: Peter Temin, The Great Depression. Historical Paper 62, Cambridge (USA) 1994, S. 8 f. (übersetzt von Friedrich Huneke) 1. Vergleichen Sie die Darstellung der Schutzzoll-Politik von Kindleberger und Temin. 2. Erörtern Sie folgende Behauptung: „Die Import zölle sind als eine wichtige Ursache der Depression zu betrachten.“ 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 1 Allokation: Verteilung 2 Zitat aus einer Veröffentlichung von Sir Arthur Salter von 1932. 108 Ursachen und Folgen der Weltwirtschaftskrise 1929 4677_1_1_2015_090-127_Kap3.indd 108 17.07.15 11:42 Nu r z u Pr üf zw ec k n Ei ge nt um es C .C .B uc h er V er la gs | |
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